Tage des Verlassenwerdens by Elena Ferrante

Tage des Verlassenwerdens by Elena Ferrante

Autor:Elena Ferrante [Elena Ferrante]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Roman
Herausgeber: Suhrkamp Verlag
veröffentlicht: 2019-07-15T22:00:00+00:00


20

Als ich den Fahrstuhl erreichte, war mir zumute, als wäre ich zwischen dem Pinienhain und dem Hauseingang auf einem Drahtseil balanciert. Während die Kabine sich langsam aufwärtsbewegte, lehnte ich mich gegen die Metallwand und starrte Otto dankbar an. Er stand mit leicht nach außen gedrehten Pfoten da und keuchte, ein dünner Sabberfaden lief aus seiner Schnauze und hinterließ einen Schnörkel auf dem Boden des Aufzugs. Die Kabine ruckelte und blieb stehen.

Auf dem Treppenabsatz erwartete mich Ilaria, sie wirkte sehr wütend, als sei meine Mutter aus dem Reich der Toten zurückgekehrt, um mich an meine Pflichten zu erinnern.

»Er hat schon wieder gebrochen«, sagte sie.

Sie ging vor in die Wohnung, gefolgt von Otto, den ich von der Leine losmachte. Nichts roch nach verbrannter Milch oder Kaffee. Ich nahm mir die Zeit, die Tür abzuschließen, steckte automatisch den Schlüssel ins Schloss und drehte zweimal um. Inzwischen hatte meine Hand sich an diese Geste gewöhnt, die verhindern sollte, dass irgendwer in die Wohnung kam, um in meinem Kram herumzuwühlen. Ich musste mich schützen vor jemandem, der jede Pflicht, jedes schlechte Gewissen auf mich abwälzen und verhindern wollte, dass ich wieder zu leben begann. Der Verdacht, auch meine Kinder könnten mir einreden wollen, dass ihr Fleisch durch meine Schuld verkümmerte, schon allein, weil sie dieselbe Luft atmen mussten, durchfuhr mich wie ein Blitz. Das war der Grund für Giannis Übelkeit. Er setzte es in Szene und Ilaria rieb es mir genüsslich unter die Nase. Er hat wieder gebrochen, ja, na und? Es war nicht das erste Mal und es würde nicht das letzte Mal sein. Gianni hatte genau so einen empfindlichen Magen wie sein Vater. Beide wurden seekrank und beiden wurde im Auto schlecht. Ein Schluck kaltes Wasser oder ein dickes Stück Sahnetorte genügten, schon war ihnen übel. Wer weiß, was der Junge wieder heimlich gegessen hatte, um mir das Leben schwer zu machen und den Tag noch anstrengender.

Das Zimmer war erneut in Unordnung. In einer Ecke türmte sich die schmutzige Bettwäsche auf wie eine Wolke, Gianni hatte sich wieder in Ilarias Bett gelegt. Die Kleine hatte mich vertreten. Sie hatte sich so verhalten wie ich mich bei meiner Mutter: Sie hatte versucht, das zu tun, was sie bei mir abgeguckt hatte, an meine Stelle zu treten war eine spielerische Art, sich meiner Autorität zu entledigen, sie wollte meinen Platz einnehmen. Normalerweise war ich freundlich, was meine Mutter nie gewesen war. Jedes Mal, wenn ich sie nachzuahmen versuchte, warf sie mir Vorwürfe an den Kopf und sagte, ich mache es völlig falsch. Vielleicht war sie es sogar, die mich in Gestalt der Kleinen fertigmachen wollte, indem sie mir meine Minderwertigkeit vorführte. Als wollte sie mich zu einem Spiel herausfordern, das sie bestens beherrschte, verkündete Ilaria:

»Die schmutzige Bettwäsche hab ich da hingeschmissen und Gianni hab ich in mein Bett gelegt. Er hat nicht viel gebrochen, er hat nur so gemacht.«

Zur Demonstration würgte sie und spuckte ein paarmal auf den Fußboden.

Ich trat zu Gianni, er war nass geschwitzt und sah mich feindselig an.

»Wo ist das Fieberthermometer?«, fragte ich.



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